Im Gespräch mit dem Regisseur Adrian Francis
Über die Dokumentation „Paper City“ und die Brandbombardierung Tokios im 2. Weltkrieg...
„Kurz nach Mitternacht am 10. März 1945 flogen die USA einen massiven Luftangriff auf Tokio und entfachten einen Feuersturm auf dieses dichte Gebiet aus Holz- und Papierhäusern. Bei Sonnenaufgang waren mehr als 100.000 Menschen tot und ein Viertel der Stadt zerstört - der verheerendste Luftangriff der Geschichte.
Im Gegensatz zu ihren Angehörigen überlebten Herr Hoshino, Frau Kiyooka und Herr Tsukiyama das Inferno. Seit Jahren setzen sie sich für eine öffentliche Gedenkstätte, ein Museum und eine symbolische Entschädigung für die Zivilisten ein, die alles verloren haben. Aber die japanische Regierung hat sich geweigert, ihre Appelle offiziell anzuerkennen, und nach sieben Jahrzehnten stehen sie im Abseits, während die ehemaligen Soldaten vom Staat großzügig behandelt worden sind.
„Paper City“ folgt den Überlebenden, die eine letzte Kampagne starten, um eine Aufzeichnung dieser vergessenen Tragödie zu hinterlassen - bevor der letzte von ihnen stirbt. Der Film, der erschütternde Zeugenaussagen, selten gezeigte Archive und modernes Engagement miteinander verbindet, ist eine Erkundung von Trauma, Erinnerung und der Rolle des Staates bei der Aufzeichnung der Geschichte.“
Vor kurzem hatte die Dokumentation „Paper City“ ihre „inoffizielle“ japanische Premiere für Gönner, Freunde und für die Medien in Tokio.
Wir haben ein Gespräch mit dem australischen Regisseur Adrian Francis geführt und uns über sein berührendes, schockierendes wie trauriges, aber auch erhellendes, mutiges und inspirierendes Werk unterhalten.
Was war die Inspiration dafür, eine Dokumentation über dieses komplexe, unbekannte und schwierige Thema zu machen?
Wie so viele Australier meiner Generation, wuchs ich mit Geschichten über die Grausamkeiten gegen die alliierten Zivilisten durch das japanische Militär auf. Aber abgesehen von den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki, lernte ich nichts darüber, wie die japanischen Zivilisten den Krieg erlebten. Das änderte sich, als ich die Dokumentation „Nebel des Krieges“ von Errol Morris sah, welche das Ausmaß der Zerstörung von Tokio in einer Sequenz zeigte. In einem zweieinhalbstündigen Luftangriff warf die US-Armee 1500 Tonnen mit Brandbomben auf die schlafenden Zivilisten ab. Am Morgen war ein Viertel der Stadt zerstört und 100.000 Menschen getötet - der zerstörerischste Luftangriff der Geschichte. Egal wie man es sehen möchte, es bleibt ein Kriegsverbrechen. Und trotzdem wird darüber in Japan oder in Übersee, sehr selten gesprochen. Selbst in meinen vielen Jahren in Tokio, habe ich sehr wenige physische Spuren des Angriffs und der Opfer in der Stadt gesehen. Warum fehlt Tokio in unserem kollektiven Bewusstsein des 2. Weltkrieges?
Am Anfang begann ich über die Überlebenden nachzudenken: Ob sie noch immer am Leben waren, sie darüber sprechen oder das alles lieber vergessen wollten?
Ich begann die Arbeit an diesem Film für Antworten auf all diese Fragen.
Wie sind Sie anfangs vorgegangen, wie haben Sie sich in das Thema eingearbeitet und wie haben Sie die Protagonisten des Films gewinnen können?
Ich begann damit, etwas mehr über die Hintergründe der Brandbombardierung Tokios zu lesen und allgemein über Luftangriffe in Kriegszeiten. Obwohl in den letzten Jahren mehr darüber auf Englisch publiziert wurde, gab es damals nur sehr wenig über dieses Thema.
Durch meine japanischen Nachforschungen fand ich ein kleines privates Museum in Tokio, welches den Luftangriffen gewidmet war, das „Zentrum der Luftangriffe auf Tokio und deren Kriegsschäden“. Ich kontaktierte auch eine Gruppe von Überlebenden, die sich seit Jahren für den Bau einer Gedenkstätte und eines Friedensmuseums, als auch für Reparationszahlungen dafür was die Zivilisten verloren hatten, einsetzte. Was mich hierbei am meisten überraschte ist die Tatsache, dass diese Menschen so überzeugt davon waren, an die Attacke zu erinnern und über ihre Verluste zu sprechen, über ihre Familien und Freunde, ihre Häuser und ihre Existenzen. Ihr Problem jedoch war jedoch, dass nur wenige Menschen zuhören wollten.
Ich war zugleich etwas darüber besorgt, dass die Überlebenden misstrauisch sein würden, mit einem Nachfahren ihres „Feindes aus Kriegszeiten“ zu sprechen, aber nichts von alledem, hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Ich fühlte mich demütig, dass besonders die drei Überlebenden gewillt waren, mir ihre Geschichten anzuvertrauen. Frau Kiyooka, eine der Hauptfiguren des Films, sprach oft darüber, um wie vieles leichter es manchmal für einen Außenstehenden ist - als für einen japanischen Filmemacher - direkter auf das komplexe Erbe des Krieges zu blicken.
Wie lange dauerte es von der ersten Idee bis zur Fertigstellung des Films?
Alles in allem haben wir über einen Zeitraum von 7 Jahren daran gearbeitet, von 2014 bis 2021.
Was machte diesen Prozess so langwierig? Lag eine Absicht dahinter, oder handelte es sich hierbei eher um eine Nebenwirkung der Arbeit am Film?
Es war sicherlich nicht unsere Absicht so viel Zeit aufzubringen. Anfänglich etwas naiv, nahm ich an, es würde nur ein paar Jahre dauern die Dokumentation fertigzustellen. Wir haben mit der Recherche und der Ideenentwicklung im Jahre 2014 begonnen. Die Hauptdreharbeiten fanden in den Jahren 2015 und 2016 statt, danach verlagerten wir unseren Fokus auf die Beschaffung von Mitteln für die Postproduktion. Als wir dies erreicht hatten, arbeiteten wir ungefähr ein Jahr am Schnitt, sowie einige Monate am Sound und der Musik, bis zur Fertigstellung des Films im Juni 2021.
Die Finanzierung war vielleicht die größte Herausforderung von allem – besonders, weil dies der erste lange Film sowohl für meinen Produzenten als auch für mich war. Am Ende beteiligten sich Screen Australia und Melbourne International Film Festivals Premiere Fund, wofür wir sehr dankbar waren. Mit einem Crowd Funding über die japanische Seite Campfire und einigen privaten Investoren, gelang es uns die Spendensammlung abzuschließen.
Was waren die Schwierigkeiten auf dem Weg zur Vollendung der Dokumentation?
Eine der größten Herausforderungen für mich, war es, mit den Limitierungen meiner begrenzten japanischen Sprachfähigkeiten zu arbeiten, besonders während der Dreharbeiten. Ich bin es nicht so sehr gewöhnt mit älteren Menschen zu sprechen und die Sprache der Kriegsjahre, kann sogar für junge Japaner schwer zu verstehen sein. Wenn ich auf all das Material zurückblicke, gab es Zeiten, in denen ich nicht vollkommen verstand, was mir in den Gesprächen gesagt wurde, wodurch ich die Gelegenheiten verpasste mit weiteren Fragen nachzusetzen.
Die andere Herausforderung bestand darin, den drei Überlebenden, die im Film zu sehen sind und die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten alle in ihren 80ern und 90ern waren, unsere Absichten zu vermitteln. Während sie sich an kurze Interviews mit den Medien, zu den Jahrestagen der Bombardierung, gewöhnt hatten, war es für sie schwieriger, unsere eher beobachtende Herangehensweise zu verstehen, mit der wir eineinhalb Jahre lang immer wieder zu den Dreharbeiten zurückkehrten. Ich bin mir sicher, dass in ihnen manchmal ein wenig Frustration aufkam, aber dennoch begegneten sie uns stets mit Freundlichkeit und Offenheit.
Der Schnitt war ebenfalls eine enorme Herausforderung. Wir hatten etwa 45 Stunden an Filmmaterial zusammengestellt. Zunächst wussten wir, dass wir den drei Überlebenden gegenüber, eine Verantwortung hatten, ihre Aussagen und ihren emotionalen Werdegang zu vermitteln. Außerdem mussten wir dem Publikum die Geschichte und die Komplexität des Kampfes der Überlebenden um Anerkennung in der Nachkriegszeit deutlich machen. Dazu drehten wir einen Film über die Erinnerung, in dem die Handlung in der Gegenwart spielt. Es hat uns viel Arbeit gekostet, diese Elemente so auszubalancieren, dass sie für das Publikum schlüssig und überzeugend sind.
Was hat sie während der Dreharbeiten am meisten erschreckt?
Das lag nicht so sehr an den Dreharbeiten selbst, sondern vielmehr an der Reaktion der Leute, als ich ihnen erzählte, dass ich einen Film über die „Brandbombardierung von Tokio“ drehe. Danach war die Reaktion vieler Leute oft: „Ah, Hiroshima!“ Als konnten sie sich ein solch schreckliches Ereignis in Bezug auf Tokio gar nicht vorstellen.
Weil es wenig sinnvolle Diskussionen über die Bedeutung und das Vermächtnis des Krieges in Japan gibt, sind die Wahrnehmungen der Linken und Rechten politischen Gruppen arg verzehrt.
Als Beispiel dieser Polarisation zwischen den Lagern:
Während der Dreharbeiten bei einer sehr stillen Straßenkundgebung, außerhalb des japanischen Parlamentsgebäudes, hatten sich ein paar Überlebende der Bombardierungen eingefunden, um den Gesetzgebern eine Petition zu übergeben. Als sie dem Redner zuhörten, fuhr ein schwarzer Truck der japanischen Rechten vorbei. Diese Fahrzeuge kann man überall in Tokio sehen - besonders bei wichtigen Kriegsfeiertagen und an Gedenkstätten für den Krieg. An diesem Tag wurde der Bombardierung von Pearl Harbor gedacht. Die Überlebenden hatten diesen Tag ausgewählt, den Beginn des Pazifikkrieges, um hervorzuheben, wie die Kriegstreiberei der japanischen Regierung schließlich zur US-Bombardierung von Tokio und 66 anderen japanischen Städten geführt hatte. Der Fahrer schrie über die Lautsprecheranlage, „warum die Überlebenden gegen ihre eigene Regierung demonstrieren und dass sie wegen der US-Kriegsverbrechen doch vor deren Botschaft protestieren sollen“.
Und was hat Sie im Gegenzug am meisten überrascht?
Ich dachte schon lange über das Thema Brandbombardierung nach, aber, so richtig, kam es bei mir erst nach einem Jahr emotionalen Aufruhrs an, in einer Zeit, da mein Vater starb und mein Partner und ich uns trennten.
Viele Themen des Films wurden plötzlich sehr eindringlich und persönlich für mich: Verlust, Trauer, Erinnerung, Vermächtnis und die Bedeutung, die wir unseren Leben geben. All die Dinge also, die ich in den Erfahrungen der Brandbomben-Überlebenden gesehen hatte. Vielleicht war es das, was mich mit diesen viel älteren Menschen verband, mit denen ich oberflächlich nichts gemeinsam hatte – die in einer anderen Welt und mit einer anderen Sprache aufwuchsen als ich. Ihre Unverwüstlichkeit, ihre Bescheidenheit und ihr unerschütterlicher Optimismus angesichts der Gleichgültigkeit von Regierung und Öffentlichkeit haben mich sehr bewegt. Es gibt einen Augenblick im Film, in dem ich Herrn Hoshino, einen der Protagonisten, frage, was er tun wird, wenn die Kampagne der Überlebenden scheitert, und er antwortete, dass sie es immer wieder versuchen werden. Selbst mit 85 Jahren war er noch voller Hoffnung - als ob sein Leben davon abhinge.
Gab es eine Zeit, in der Sie sich von allem oder einem bestimmten Thema überfordert fühlten oder es Sie so bewegt hat, dass es für Sie schwierig war?
Ich denke, dass die bei mir bleibenden Bilder, jene, mit den Gesichtern unserer Protagonisten sind, wenn sie in Stille verfallen. Alle drei haben ihre Geschichte über die Jahre immer wieder erzählt und doch gibt es noch immer Augenblicke, wenn sich bestimmte Szenen in ihrem Geiste abspielen und ihnen die Worte fehlen - weil nichts existiert, was sie sagen könnten, um das Geschehene zu erklären.
Dies sind Menschen, die den Tod ihrer Lieben und ihrer Gemeinden betrauert haben, und die ihr Leben, aus der Asche einer zerstörten Stadt, wieder aufgebaut haben. Sie sind keine sentimentalen Menschen. Aber in diesen Augenblicken der Stille, kann man ihren Schmerz sehen und auch ihren Willen und ihre Stärke überleben zu wollen.
Gab es während der Zeit, da sie die Protagonisten des Filmes in ihrem Kampf um Anerkennung begleiteten, Erfolge in der Sache oder Rückschläge?
Während unserer Dreharbeiten gab es Rückschläge in ihrem Streben nach Anerkennung, aber die Überlebenden blieben unbeeindruckt. Die zivile Kampagne für verschiedene Formen der Anerkennung reicht bis in die 1960er Jahre zurück. Über diese Zeit hat ihr Aktivismus viele Wendungen genommen - Kundgebungen, Reden, Petitionen und so weiter - und mit jedem Rückschlag, suchten sie nach neuen Wegen, um ihre Nachricht zu vermitteln.
Einige Jahre bevor wir mit den Dreharbeiten begannen, haben einige Überlebende eine Sammelklage gegen die japanische Regierung eingereicht. Sie hofften, die Regierung dazu zu bewegen, den zivilen Überlebenden, die bei den Luftangriffen alles verloren hatten, eine Art symbolische Entschädigung zu gewähren. Im Gegensatz zu den ehemaligen Soldaten und ihren Familien, die vom Staat großzügig behandelt wurden, haben die Zivilisten nichts erhalten. Am Ende verloren die Überlebenden ihren Prozess gegen die Regierung, aber das Gericht stellte in seinem Urteil fest, dass es keine Grundlage für die ungleiche Behandlung von Zivilisten gibt und dass die Regierung selbst dieses Problem angehen sollte. Seit diesem Urteil haben die Überlebenden ihre Energie in die Verabschiedung eines Gesetzes im Parlament gesteckt. Natürlich geht es jetzt, so lange nach dem Krieg, nicht wirklich um Geld, sondern um den Versuch, die Regierung dazu zu bringen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass sie einen Krieg begonnen und ihre eigenen Bürger für ihre imperialistischen Ambitionen geopfert hat.
Aber viele der Überlebenden sind in ihren 80er und 90er Jahren und damit an die Grenzen des Alters und ihres relativ kleinen Einflussbereichs gestoßen. Hier kann unser Film auf bescheidenem Wege helfen die Geschichte der Brandbombardierung Tokios einem Publikum außerhalb Japans näherzubringen.
Wie haben sich Ihre Gedanken oder Ihre Wahrnehmungen des Themas seit der ersten Idee bis zur Fertigstellung des Films verändert, wenn ja, wie denken Sie jetzt darüber, nachdem Sie so viele Jahre lang einen tiefen Einblick in die Problematik hatten?
Ich denke, was am lehrreichsten für mich war, ist wie begrenzt unser Blick auf den Krieg an sich ist, wenn man diesen einfach nur als Kampf von Nationen sieht oder wir gegen sie. Warum können wir nach 7 Jahrzehnten nicht nuancierter auf die Realitäten blicken? Warum müssen wir uns selbst simple Geschichten über die Vergangenheit erzählen?
Unser Film erzählt seine Geschichte vollständig aus der Sicht japanischer Zivilisten, aber er ist mit Sicherheit keine Verteidigung des japanischen Militarismus. Im Gegenteil, die Erfahrungen der Überlebenden kritisieren sehr stark beide Seiten jedweden Militarismus auf beiden Seiten des Krieges. Am Ende, ob sie nun auf der Seite der Aggressoren oder Opfer sind, tragen alle Zivilisten die Hauptlast der Entscheidungen von Regierungen und Militärs. Das gilt auch für die zivilen Opfer des japanischen Imperialismus in China, Korea und anderen Ländern. Das gilt genauso für die Opfer der US-Bombenangriffe auf Japan. Deshalb eröffnete ich den Film mit einem Zitat aus Milan Kunderas Roman „Das Buch des Lachens und Vergessens“:
„Der Kampf des Menschen gegen die Macht, ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen.“
Was nehmen Sie für sich selbst als Mensch und als Regisseur mit aus der Arbeit an der Dokumentation?
Die Überlebenden wollen einfach einen Abdruck auf das öffentliche Gedächtnis hinterlassen, der ihr eigenes Dasein überdauert. Ich denke dieser Wunsch etwas zurückzulassen, schwingt bei mir als Filmemacher sehr stark mit, aber es ist gleichzeitig auch essenziell für uns alle - gehört zu werden, bekannt zu sein und in der Erinnerung weiterzuleben. Die große Angst der Überlebenden in „Paper City“ ist die Tatsache, dass, wenn sie ihre Geschichten nicht weitererzählen, die Brandbombardierung bald aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden wird - so als ob es niemals geschehen wäre.
Als ich mit diesem Projekt anfing, dachte ich, dies sei ein Film über die Vergangenheit. Jetzt aber sehe ich es wie George Orwell in „1984“ - wer die Vergangenheit kontrolliert, beherrscht die Zukunft. Wenn die Brandbombardierung Tokios aus unserem kollektiven Gedächtnis verschwindet, dann ist genauso als hätte es all das niemals gegeben. Und wenn es in Wirklichkeit niemals passiert ist, dann werden die Täter von der Verantwortung freigesprochen, und die Öffentlichkeit lässt sich in ihrem Geschichtsverständnis leichter manipulieren - und folgt eher blindlings dem, was ihr erzählt wird.
Was sind Ihre Hoffnungen für die Dokumentation, was wollen Sie damit erreichen? Wie geht es damit weiter?
Wir möchten ein möglichst breites Publikum erreichen - sowohl in Japan als auch im Ausland.
Eines der zentralen Themen von „Paper City“ sind die Arten wie wir Erinnerung festhalten und weitergeben. Dies setzt sich mit den Zuschauern selbst fort, die durch die Betrachtung des Films zu „Zeugen“ der Geschichten der Überlebenden werden und sich zu einem Teil jener Kette entwickeln, welche die Erinnerung an die Menschen in ihrer Umgebung und an die nachfolgenden Generationen weitergibt.
Ich weiß, dass es in Japan den Wunsch gibt, über diese Dinge zu sprechen, aber es ist oft schwierig, die Diskussion darüber zu beginnen. Ich würde mich sehr freuen, wenn dieser Film dazu beitragen könnte, einen generations- und familienübergreifenden Dialog über das Erbe der Luftangriffe und des Krieges anzustoßen - während die Diskussion über die Überarbeitung der japanischen „Friedens“-Verfassung weitergeht - und darüber, welche Art von Zukunft, Japan für sich selbst wünscht. Vielleicht kann der Film sogar einen kleinen Teil dazu beitragen, Druck auf die Regierungen Japans und Tokios auszuüben, damit sie den Forderungen der Überlebenden nachkommen.
Ich hoffe auch, dass „Paper City“ die Menschen zum Nachdenken darüber anregt, wie Bombenangriffe auch heute noch in der Kriegsführung eingesetzt werden und dass das Trauma von Luftangriffen die Überlebenden für ihr Leben prägen kann. Wir sehen das immer wieder - in Vietnam, Korea, Irak, Syrien, Jemen, Palästina, der Ukraine.
Und vielleicht sollten die Zuschauer über die zentralen Themen des Films nachdenken, nämlich über das Erinnern und das Vergessen, insbesondere darüber, was wir von der Vergangenheit behalten oder verwerfen wollen - und warum. Selbst nach 77 Jahren gibt es auf der Seite der Alliierten im Zweiten Weltkrieg viele, die einfach glauben wollen, dass Kriegsverbrechen gegen japanische oder deutsche Zivilisten aufgrund der schrecklichen deutschen und japanischen Gräueltaten an anderer Stelle zu rechtfertigen sind.
Wann und wo hatte der Dokumentarfilm seine Premiere, wie waren die ersten Reaktionen, sowohl beim Publikum als auch in den Medien?
„Paper City“ wurde im August 2021 auf dem Melbourne International Film Festival uraufgeführt. Ich bin eigens für die Weltpremiere von Tokio nach Melbourne geflogen, aber nach meiner Ankunft hat Melbourne eine strenge Sperre verhängt, und das Festival fand nur noch online statt. Wir haben unglaublich gute Kritiken und Artikel über den Film bekommen, und allen Berichten zufolge waren die Menschen sehr bewegt. Es gab ähnliche Berichte von Festivals in den USA. Das lag zum großen Teil daran, dass viele Menschen außerhalb Japans einfach sehr wenig oder gar nichts über die Bombenangriffe wissen. Aber für mich wird Nippon Connection in Frankfurt Ende Juni, die erste Gelegenheit sein, den Film direkt vor einem Publikum zu präsentieren. Ich bin sehr gespannt darauf, die Reaktion des Publikums, aus erster Hand zu erfahren.
Wie haben Sie die japanische Premiere wahrgenommen? Waren die Reaktionen des Publikums und der Medien unterschiedlich? Es ist offensichtlich auch ein sehr japanisches Thema... Wie hat sich das alles unterschieden, wenn es einen Unterschied gab, wie einzigartig war die Reaktion des Publikums hier in Japan?
Wir hatten noch keine offizielle Premiere in Japan, aber wir haben eine private Vorführung in Tokio für die Besetzung, die Crew und die Crowdfunding-Spender abgehalten. Die Reaktion auf diese Vorführung war überwältigend positiv - nicht zuletzt von den Überlebenden der Bombenangriffe im Saal, die sich sehr bestätigt fühlten, als sie ihre Geschichten auf der großen Leinwand sahen. Rund um den diesjährigen Jahrestag, gab es auch ein großes Medieninteresse an „Paper City“ - von NHK und mehreren Zeitungen.
Mir ist klar geworden, dass der Film für viele jüngere Menschen in Japan, einschließlich derer, die in Tokio aufgewachsen sind, eine Einführung in das Ausmaß der Zerstörung ist, die Tokio und anderen Städten zugefügt wurde. Und dann gibt der Film ihnen zum ersten Mal die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn diese Geschichte vergessen wird - wenn die schreckliche Zerstörung, die ihren Städten angetan wurde, in der Identität ihrer eigenen Städte, in ihrem eigenen Selbstverständnis, fehlt.
Gibt es bereits eine Möglichkeit, den Film online anzusehen? Gibt es bereits einen Vertrieb für den Dokumentarfilm?
Im ersten Jahr oder so konzentrieren wir uns auf Filmfestivals. Bisher haben wir den Film auf dem Santa Barbara International Film Festival und dem „Full Frame Documentary Film Festival“, beide in den USA, gezeigt. Wir haben einen weltweiten Vertriebsagenten, der derzeit nach Möglichkeiten sucht, den Film auch darüber hinaus zu vertreiben. Wir hoffen, in den nächsten Monaten einige interessante Ankündigungen machen zu können. Wir sind auch in Gesprächen, um eine Form des Vertriebs in Japan zu finden. Wir möchten den Film mit so vielen Menschen wie möglich in Japan teilen und dazu beitragen, eine Diskussion über die Tatsache und das Vermächtnis der Luftangriffe anzuregen.
Wie geht es für Sie persönlich weiter? Gibt es neue Projekte oder Ideen für kommende Projekte?
Das ist die große Frage! Filme machen ist anstrengend. Aber nach der Fertigstellung eines Films will ich es beim nächsten Mal besser machen. In diesen Tagen bin ich von einigen Dingen sehr besessen. Ich denke viel über verschiedene Vorstellungen von Zeit nach - als Kreis, als Pfeil, als Spirale. In den nächsten Monaten werde ich mir etwas Ruhe gönnen, um mich damit zu beschäftigen - Filme schauen, lesen, reisen, beobachten. Und diesen Ideen etwas Raum geben, damit sie konkretere Formen annehmen und sich entwickeln können.
Vielen Dank für das interessante Gespräch und viel Erfolg für „Paper City“, die Sache und Ihre weitere Arbeit!
Vielen Dank für die Gelegenheit darüber zu sprechen!
Zum Regisseur
- 1974 in Australien geboren, lebt und arbeitet seit 2005 in Japan.
- Nach seinem Dokumentarfilmstudium am „Victorian College of the Arts“ in Melbourne drehte er den Kurz-Dokumentarfilm LESSONS FROM THE NIGHT (2008), der 2009 seine Premiere auf dem Sundance Film Festival feierte.
- „Paper City“ (2021 / NC ’22) ist sein erster langer Dokumentarfilm.
„Paper City“ feierte seine europäische Premiere am 24. und 25. Mai 2022 auf dem Nippon Connection Filmfestival in Frankfurt / Deutschland.
Links
- Vortrag bei TEDxWasedaU - “Paper City: Memory, Forgetting, and the Tokyo Air Raid: https://www.youtube.com/watch?v=jFr3U3bbuMg
- Nächste Aufführungen:
- Stranger Movie Theater, Kikugawa Kaikan Building, 3-7-1 Kikugawa, Sumida-ku, Tokyo, von Freitag, dem 1. März bis Donnerstag, 7. März. Nur eine Woche ab 11:20 Uhr, mit einem Gespräch nach jeder Vorführung: https://stranger.jp/
- Hauptseite der Dokumentation & Trailer: https://papercityfilm.com
- Nippon Connection Festival: https://db.nipponconnection.com/de/event/1218/paper-city